Die Berufung zum Beruf machen
Von der Studienrätin zur Tanz- und Ausdruckstherapeutin
Das Gespräch mit der campus naturalis Dozentin Utsavo Renate Wiesmann wurde aufgeschrieben von Kristina Simon
Ein voller Terminkalender, eine gute, angesehene Position in einem renommierten Unternehmen, und auch das Gehalt kann sich sehen lassen: All das sind Zukunftsaspekte, auf die viele von uns seit ihrer Schulzeit hinarbeiten. Der moderne Mensch scheint kein höheres Gut zu kennen, als zu funktionieren. Doch leider ist niemand vor Schicksalsschlägen, traumatischen Erlebnissen und Gewalterfahrungen gefeit.
Das Leben hinterlässt Spuren, die meisten davon sind nicht auf den ersten Blick sichtbar. Sie verkeilen sich in unserem Unterbewusstsein – dort kann sich unbemerkt eine Psychose, Sucht, Depression oder Burn-Out entwickeln, ohne dass man noch genau zuordnen kann, was der Ursprung war.
Körperliche Symptome wie:
- Schmerzen
- Infekte
- Abgeschlagenheit
sind Alarmsignale des menschlichen Körpers, die aufgrund psychischer Probleme entstehen können und auf die viel zu selten geachtet wird.
Die Tiefenpsychologie beschäftigt schon lange mit diesen unbewussten seelischen Vorgängen, die eine enorme Auswirkung auf das menschliche Verhalten und Erleben haben. Wie wichtig es ist, den eigenen Körper wahrzunehmen, zu spüren und auch mal loslassen zu können, weiß Utsavo Renate Wiesmann, diplomierte Tanz- und Ausdruckstherapeutin und Dozentin am campus naturalis. Die Begeisterung, die sie für diese besondere Therapiemethode hegt, ist im Gespräch mit ihr förmlich greifbar.
Lebensmotto „Tue das, was du tust, mit Begeisterung“
Der Weg von Utsavo Renate Wiesmann führte von der Ausbildung zur Versicherungskauffrau und –fachwirtin über den zweiten Bildungsweg zum Begabtenabitur und damit zum Lehramtstudium. Nachdem sie bereits zehn Jahre als Studienrätin an einer Berufsschule und Wirtschaftsgymnasium beschäftigt war, war es der Zufall, der sie auf die Ausbildung für Tanz- und Ausdruckstherapie stoßen ließ. „Da hat es bei mir Klick gemacht“, sagt sie mit einem Lächeln. „Am liebsten hätte ich Psychologie studiert, befürchtete aber, dass ich das aufgrund meiner fehlenden Mathekenntnisse nicht meistern würde. Doch diese Leidenschaft war immer da.“ Die Ausbildung zur Tanz- und Ausdruckstherapeutin beinhaltete aber noch eine wesentliche weitere Leidenschaft, die sich Utsavo seit ihrer Jugend bewahrt: „Meine Eltern konnten mir damals keine Ballettausbildung finanzieren. Heute bin ich total froh darüber, weil ich mir dadurch den natürlichen Ausdruck behalten habe. Ich habe Discotheken besucht und mich ganz dem Tanz überlassen.“ Das Tanzen zu rhythmischer Musik, sich dieser ganz und gar hingeben – für Utsavo eine Selbstverständlichkeit. So selbstverständlich, dass sie ihre Ausbildung zur Tanz- und Ausdruckstherapeutin 1989 beendete. Fünf Jahre später zog sie dann kurzerhand und binnen einer Woche von Hamburg nach München, um dort als Dozentin einzusteigen.
Ist es wichtig, auf sich zu hören und selbstbewusst zu handeln?
„Selbstvertrauen ist die erste Voraussetzung für große Vorhaben“, das wusste bereits der englische Sprachforscher Samuel Johnson. Und so wagte Utsavo, überzeugt von dem integralen, ganzheitlichen Therapieansatz, den mutigen Schritt in die freiberufliche Selbstständigkeit – zunächst als Dozentin, später als stellvertretende Leiterin ihres Ausbildungsinstituts. Eine ehemalige Arbeitskollegin, eine Kunsttherapeutin, machte Utsavo auf campus naturalis aufmerksam. „Da gibt es ein Institut, da würdest du gut reinpassen“, erinnert sich Utsavo an den Anruf zurück.
Seit 2007 ist sie für die campus naturalis AKADEMIE tätig und eine der Dienstältesten. Utsavos Lebensmotto „Tue das, was du tust, mit Begeisterung“ beantwortet eigentlich die Frage bereits, warum sie der Akademie schon so lange treu ist. Trotzdem ist es ihr wichtig zu betonen: „Ich liebe diese Arbeit so sehr! Insbesondere schätze ich den Vorteil, den man durch eine kombinierte Ausbildung hat, wie es bei campus naturalis der Fall ist. Auch wenn mein Schwerpunkt Ausdruck und Tanz ist, so sind die anderen kreativen Verfahren eine tolle und wichtige Bereicherung.“
Das kreative Basisjahr
Das kreative Basisjahr ist eine gelungene Kombination aus Grundlagen von Therapie und Pädagogik und verschiedenen kreativen Methoden wie:
- die Kunsttherapie
- die Musiktherapie
- die Theatertherapie
- die Dramatherapie
- die Tanz- und Ausdruckstherapie
Die einzelnen Fachdisziplinen werden dabei auch teilnehmerspezifisch entwickelt. Schwerpunkt kann z.B. die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder auch die Psychotherapie im klinischen Setting sein.
Wird auf die kreative Individualität der Studierenden eingegangen?
Dank der Einbeziehung verschiedenster Kreativmodelle ermöglichen sich für die Studierenden fließende Übergänge zwischen den Therapieformen und flexible Gestaltungsräume, um zu erkennen, was sie am meisten anspricht. „Jeder Mensch ist anders“, erklärt Utsavo. „Mithilfe dieser besonderen Ausbildungsstruktur habe ich die Möglichkeit, darauf einzugehen und zu sehen, wo ich jemanden abholen kann. Ein Ausdruck oder Geste, ein Gefühl, all das kann ich im nächsten Schritt z.B. in Musik umwandeln oder auch malen. So entwickelt sich ein Prozess, der sich aus den verschiedenen kreativen Verfahren speist – einfach genial.“ Welchen Berufsweg die Absolvent*innen später einschlagen, hängt auch immer von der Vorbildung der Teilnehmenden ab. „Ich erinnere mich u.a. an jemanden, der eine klassische Musikausbildung hat und nun mit Vorschulkindern Instrumente erarbeitet oder auch Theaterprojekte entwickelt. Die Nachfrage in diversen Kliniken, ob jetzt Tagesklinik, Psychosomatik oder Psychiatrie ist auch immer gegeben.“
Am wichtigsten sei es jedoch, dass die Absolvent*innen das machen, von dem sie überzeugt sind, und selbstbewusst an die Sache rangehen, hebt Utsavo hervor.
Wo kann die Tanztherapie eingesetzt werden?
Auch Unternehmen und Einzelpersonen wie Führungskräfte, Schauspieler*innen und Sänger*innen profitieren von Utsavos 30-jähriger Erfahrung als freie Tanz- und Ausdruckstherapeutin.
Wo hat Utsavo die Tanztherapie beruflich eingesetzt:
- in Unternehmen für z.B. Führungskräfte
- für Menschen aus kreativen Berufen wie Musik und darstellendes Spiel
- im Coaching – für Gruppen und Einzelpersonen
- in einer Klinik mit Psychosomatik
In Gruppen- und Einzeltrainings bietet die lebensbejahende Münchnerin, die zwei Krebsdiagnosen überwunden hat, Coachings an, um zu einem optimierten und zugleich natürlichen Körperempfinden zu gelangen. 12 Jahre lang war Utsavo zudem als Tanztherapeutin in der Psychosomatik einer Klinik tätig. Diese Arbeit wie auch der Umgang mit Suchtabhängigen hat ihre Expertise weiter gefestigt und entscheidende Erkenntnisse geliefert. „Der natürliche Tanz und Ausdruck lenkt den Fokus auf das Innere. Meine Klienten erkennen, was sie bewegt – emotional, geistig, spirituell oder auch religiös. Ziel ist es, das zuzulassen und auszutanzen.“ Doch mit dem Ausdruckstanz ist es wie mit dem Fahrradfahren: Es braucht Übung, Mut und einen starken Willen. Gesellschaftliche Konventionen, Schamgefühle und die Angst vor Kontrollverlust drücken uns, unsere Haltung und unseren Ausdruck in eine Schablone. „Was den natürlichen Körperausdruck anbelangt, merke ich auch im Coaching, wie wenig präsent und kopflastig viele Menschen sind. Nicht jeder ist für Tanz und Ausdruck gemacht. Vielen fällt es schwer, sich von den eingeübten Verhalten und Bewegungsmustern zu lösen, wiederum andere haben Berührungsängste. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass das oft eine unbewusste Vermeidungsstrategie ist. Menschen, die Schlimmes durchgemacht haben, sind nicht immer bereit dazu, den ganzen Schmerz zuzulassen.“, sagt Utsavo mit ruhiger Stimme. Um jedoch Heilung zu erfahren, muss der Mensch als Ganzes betrachtet werden, dazu gehören auch unterbewusste Prozesse.
Diesem tiefenpsychologisch orientierten Ansatz nach C.G. Jung, nach dem der Mensch als ganzheitliches Wesen, bestehend aus Körper, Geist und Seele gesehen wird, folgt auch die Ausbildung an der Akademie. „Wenn jemand bereit ist, sich mental neu auszurichten und den Körper als unmittelbares Ausdruckswerkzeug zu erkennen, der erfährt mithilfe der Tanz- und Ausdruckstherapie direkten Zugang zu seinen inneren Ressourcen.“ Doch nicht nur die Hilfesuchenden, auch Therapeut*innen und Pädagog*innen schöpfen aus den kreativ-therapeutischen Disziplinen ein neues Potenzial, was wiederum einen positiven Effekt auf die Spannbreite der möglichen Arbeitsfelder hat.
„Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden“, sagt Utsavo überzeugt. „Offen zu sein für Neues, ist für dieses Berufsfeld unerlässlich. Auch deshalb bin ich am Campus geblieben. Einerseits, weil mir die Arbeit Spaß macht, und zum anderen, weil hier positiv konstruktive Anpassungsprozesse stattfinden, die eine Weiterentwicklung fördern.“