Systemische Methoden für die mentale Gesundheit
Anne Kramer, Heilpraktikerin für Psychotherapie, im Gespräch mit Sarah Micke (Campus).
Wir freuen uns, dass Sie uns als Campus-Dozentin für systemische Ausbildungen ein Interview geben.
Bitte erzählen Sie uns doch etwas über sich und Ihre Arbeit.
Seit zwei Jahren bin ich Dozentin beim Campus Naturalis und schwerpunktmäßig in den Systemischen Ausbildungen unterwegs. Ich lebe bereits 25 Jahre in Hamburg, mein Jurastudium habe ich in Amsterdam, eine weitere Spezialisierung in Brüssel absolviert. Ich habe in meinem „früheren Leben“ als Juristin im europäischen Parlament gearbeitet. Dann aber, wie es manchmal so ist, hat die Liebe mich nach Deutschland verschlagen. Beruflich fühle ich mich mittlerweile genau an der richtigen Stelle. Mit einer ordentlichen Dosis an Lebenserfahrung und nachdem meine Kinder ein bestimmtes Alter erreicht hatten, konnte ich nochmal so richtig durchstarten. Jetzt fühle ich mich vollkommen in meinem Element mit dem was ich tue.
Als meine drei Kinder noch jung waren, habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Als Kurs- und Personal Trainerin für Sport- und Gesundheit konnte ich meine Arbeit gut kombinieren mit den intensiven Jahren in der Familie. Ich war zeitlich sehr flexibel, dadurch war es einfacher, alles unter einen Hut zu bekommen. Für mich sind Bewegung, Sport und Achtsamkeit die Lebenselixiere im Leben. Kommt man körperlich in Bewegung, so bewegt die Seele sich mit. Wenn ich meine Klient*innen in den Gesprächen erlebe, spreche ich das Thema gerne an: Wo findest du deinen Ausgleich? Wie kannst du abschalten, deine Akkus wieder aufladen, dich auspowern oder auch Achtsamkeit erleben und „zu dir finden“ oder zu Ruhe kommen? Dies ist ein Teil meiner Ressourcen-Arbeit, die in der systemischen Arbeit eine große Rolle spielt.
Ich habe mittlerweile seit mehreren Jahren meine eigene Praxis für systemische Beratung, Therapie und Mediation in Hamburg und arbeite auch ehrenamtlich in einer Beratungsstelle für Menschen in Veränderung, Krise und Not. Systemisch kann man, wie ich finde, immer mit den Menschen arbeiten. Egal in welchen Altersgruppen und in welchen Lebensphasen sie sich befinden oder welche Themen sie auf dem Herzen haben. Sei es als Coaching in Lebensthemen oder in beruflichen Themen, als Systemische Gesprächstherapeutin oder auch unterstützend in schwerwiegenden Fällen, wo Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen einen wichtigen, anderen Teil übernehmen. Als Systemikerin hat man so viel wunderbares Werkzeug im systemischen Koffer, womit man arbeiten und unterstützen kann.
Welche Methoden sind das?
Es gibt viele Methoden, so arbeite ich z.B. gerne mit Visualisierungsmethoden:
- Timeline
Mit Hilfe von Bodenankern werden die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft von Klient*innen visualisiert. Dadurch bekommen wir viele Informationen und können Konflikte, Ziele oder eventuelle Traumata erkennen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Ressourcen, die wir gleichzeitig aufgreifen, um damit weiter zu arbeiten.
- Genogramm
Das Genogramm ist das Werkzeug für die Darstellung eines Familienstammbaums. Es zeigt nicht nur die Verwandtschaft, sondern auch psychische und soziale Informationen über die Familie, wie z.B. Erbkrankheiten, Konflikte, Verhaltensweisen oder Werte. Ein Genogramm kann helfen, sich selbst und seine Familie besser zu verstehen, Zusammenhänge zu erkennen und Lösungen zu finden.
- Familien-/ Systembrett
Klient*innen stellen alle Personen des eigenen Familiensystems zueinander in Beziehung. Abstand, Winkel und ggf. die Auswahl der gestellten Figuren geben Informationen zu den Fragen, die den Klienten, die Klientin interessieren. Dafür benutzen wir kleine Figuren und ein Brett. Man kann übrigens fast alle Themen (nicht nur die Familie) aufstellen.
- Arbeit mit den inneren Anteilen
Eine Methode, die davon ausgeht, dass jeder Mensch verschiedene Persönlichkeitsanteile in sich trägt, die unterschiedliche Bedürfnisse, Werte, Gefühle und Verhaltensweisen haben. Diese Anteile können miteinander harmonieren oder in Konflikt geraten, was sich auf das Wohlbefinden, die Entscheidungen und die Kommunikation des Menschen auswirkt. Wir „externalisieren“ diese Anteile und schauen sie uns gemeinsam an.
- Arbeit mit Bildkarten
Bildkarten lassen sich vielseitig einsetzen. Ich setzte diese auch gerne und häufig in meinen Sitzungen ein.
Es handelt sich hier natürlich nur um einen kleinen Griff aus meinem systemischen Koffer. Ich könnte hier Vieles mehr beschreiben, dass würde aber den Rahmen sprengen.
Wie wichtig ist Systemik in Zusammenhang mit mentaler Gesundheit?
Wenn Sie mich fragen, wie wichtig die Systemik in Zusammenhang mit mentaler Gesundheit ist, dann sage ich zweifellos, dass mentale Gesundheit im direkten Zusammenhang mit den verschiedenen Systemen steht, in denen wir uns Menschen befinden. Betrachte ich den Menschen nur als ein Individuum ohne seine Beziehungsgeflechte, in denen es sich eigentlich 24/7 befindet, fehlt mir ein Schatz an Informationen:
- Wir leben in verschiedenen Netzwerken von Beziehungen und erleben permanente Wechselwirkungen.
- Durch das Verständnis der Beziehungen und Wechselwirkungen in unseren Systemen können wir bessere Entscheidungen treffen.
- Wir bekommen Einsicht und es ist einfacher passende Lösungen zu finden.
Als kleines Beispiel: Wenn ich ganz viel Selbstfürsorge betreibe und ständig zum Sport gehe, mich mit Freundinnen treffe, alleine in den Urlaub fahre, dann würde mein Mann früher oder später schon fragen, was eigentlich mit ihm und vor allem mit uns ist. Er wäre wahrscheinlich nicht mehr so zufrieden in unserer Beziehung. Anderseits, wenn ich nur arbeite, im Haushalt, in meiner Praxis, in der Beratungsstelle, sowie als Dozentin beim Campus und gar keinen Ausgleich finde, geht es mir auf Dauer nicht gut. Eine permanente Überforderung würde vermutlich sogar auf Dauer zu einem Burn-out führen.
Der systemische Blick richtet sich also auf alle Faktoren und auf alle Beteiligten. Wir denken also nicht linear-kausal. Systemisches Denken macht es uns möglich, komplexe Probleme zu lösen. Anstatt nach einer einzigen Lösung zu suchen, können wir verschiedene Lösungen erkunden, die das gesamte System berücksichtigen.
Des Weiteren: Systemisch denkende Therapeut*innen richten den Fokus schwerpunktmäßig auf die eigenen Ressourcen von Menschen. Sie denken lösungsorientiert und schauen, wie sie die Klient*innen als Wegbegleiter unterstützen können.
- Würdigung der Probleme
- Raum geben in den Gesprächen
- Einen ressourcenreichen Weg in Richtung Lösungen finden.
In dem Wissen, dass die Klient*innen selbst Expert*innen in eigener Sachen sind, funktionieren die Lösungen am besten, die sie sich selber, mit uns als Wegbereiter, erarbeitet haben. Und das alles fördert selbstverständlich die mentale Gesundheit.
Systemische Ausbildungen am Campus:
- Systemische Beratung
- Systemische Fachberatung/ Fachtherapie Stressbewältigung und Burnout-Prophylaxe
- Systemische Einzel-, Paar- und Familienberatung/ Therapie
- Systemische Kinder- und Jugendberatung/ Therapie
- Systemische Traumaberatung / Therapie
Inwiefern sehen Sie insbesondere die Campus-Ausbildung als erfolgsversprechend?
Der Campus hat seit seiner Gründung einen ganzheitlichen Ansatz. Das Schöne beim Campus ist, dass es nicht ein rein systemisches Institut ist, sondern noch andere Perspektiven bietet. Als Beispiel: Wenn ich beim Campus durch die Räumlichkeiten gehe und die tollen Kunstprojekte von den Kunsttherapie-Teilnehmer*innen ausgestellt sehe, inspiriert mich das. Wie kreativ Menschen sein können. Ein kreativer Geist hilft auch Systemiker*innen. Wir bekommen durch die anderen Ausbildungen am Campus eben auch andere Methoden mit wie die kreativen und präventiven Verfahren und werden dadurch für unserer systemische Arbeit inspiriert. Und dann gibt es noch die „zwischen Tür und Angel“-Gespräche, in den gemeinsamen Aufenthaltsräumen oder mal ein nettes Mittagessen mit Teilnehmer*innen aus anderen Ausbildungen. Tolle Begegnungen führen zu spannenden Synergieeffekten.
Der Campus hat schon eine lange systemische Geschichte und lebt einen ganzheitlichen, integrativen Ansatz. Konkret bedeutet das, dass die verschiedenen systemischen Schulen in der Theorie vorgestellt und in ihrer Vielfalt anerkannt werden. Die Methoden der jeweiligen Schule werden praxisnah vermittelt und geübt, die Teilnehmenden bekommen somit die Möglichkeit, die für sie und ihre Arbeit passenden Interventionstechniken zu erlernen und erfahrbar zu machen.
Im Mittelpunkt steht beim Campus die systemische Haltung. Diese ist geprägt von:
- Offenheit
- Empathie
- Allparteiligkeit
- Achtsame und respektvolle Anerkennung der Stärken und Ressourcen
- Wertschätzenden Umgang mit den unterschiedlichen Konstruktionen von Wirklichkeiten.
Das Ziel bei der campus naturalis Akademie ist es, den Teilnehmenden ein Umfeld zu bieten, in dem sie ihre individuellen Lernziele verfolgen und gleichzeitig von der Unterstützung und den Erfahrungen anderer profitieren können. Wir sind davon überzeugt, dass jeder Teilnehmende einzigartige Kompetenzen und Potenziale besitzt, die es zu entdecken und zu entwickeln gilt. Durch die Förderung von Selbstreflexionsprozessen gewinnen die Teilnehmenden ein tieferes Verständnis für ihre eigenen Stärken, Herausforderungen und Entwicklungsfelder. Dies ermöglicht ihnen, ihre berufliche Entwicklung gezielt voranzutreiben und individuelle Wachstumsstrategien zu entwickeln.
Vielen Dank für das Gespräch!