Achtsamkeit in der Schule: Vom Lifestyle-Trend zum Unterrichtsfach?
Achtsamkeit in der Schule: Vom Lifestyle-Trend zum Unterrichtsfach?
In unserer modernen Leistungsgesellschaft kann das eigene Wohlbefinden schnell zu kurz kommen. Oft geht es im hektischen Alltagsleben ständig darum, den Anforderungen anderer gerecht zu werden. Aber wie geht es uns dabei eigentlich selbst? Der Trend zur „Mindfulness“ hat diese Frage wieder in den Vordergrund gerückt. Das macht sich an allen Ecken und Enden bemerkbar – von Bücherreihen und Mindful-Apps bis hin zu Achtsamkeitsseminaren für Top-Manager . Aber nicht nur Erwachsene profitieren von dieser Methode. Die Schule der Achtsamkeit spielt auch in der Ausbildung für Kinder- und Jugendtherapeuten eine zentrale Rolle. Des Weiteren gibt es europaweit immer mehr Bemühungen, das Konzept in Erziehungs- und Bildungssysteme zu integrieren:
- 2018 fand an der Pädagogischen Hochschule im Schweizer Kanton Luzern die Erste Nationale Tagung zum Thema „Achtsamkeit in Schule und Bildung“ statt *.
- In Nordrhein-Westfalen startete im selben Jahr ein Landesmodellprojekt mit dem Titel „Gesundheit, Integration und Konzentration – Achtsamkeit in Grundschulen (GIK ) **“.
- In England läuft derzeit sogar ein Projekt, das Achtsamkeit probeweise in 370 Schulen als Unterrichtsfach eingeführt hat ***.
Aber was genau steckt hinter solchen Initiativen? Warum lohnt es sich, achtsam durchs Leben zu gehen, und wie können das Kinder und Jugendliche am besten lernen? Dieser Artikel bietet einen Einblick in die Theorie der Mindfulness und ihre praktische Umsetzung im Schulalltag.
Wie funktioniert Achtsamkeit?
Was auf den ersten Blick wie eine flüchtige Modeerscheinung wirken mag, bringt bei näherem Hinsehen überraschend tiefgründige Erkenntnisse. Die Schule der Achtsamkeit hat ihren Ursprung in der buddhistischen Lehre Satipatthana Sutta, die vor mehr als zweitausend Jahren ins Leben gerufen wurde. Daraus entwickelte der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn 1979 ein achtwöchiges Programm mit dem Namen „Mindfulness-Based Stress Reduction“ (MBSR), das bis heute großen Anklang findet und inzwischen auch von deutschen Krankenkassen anerkannt wird. Aber was genau ist nun „Achtsamkeit“? Kurz gesagt handelt es sich dabei um:
Eine Form der Aufmerksamkeit, bei der wir bewusst einen gegenwärtigen Zustand wahrnehmen, ohne darüber zu urteilen.
Mit anderen Worten: Achtsamkeit bedeutet, im Hier und Jetzt präsent zu bleiben. Wie das konkret aussieht, lässt sich mit einem einfachen Beispiel erklären. Nehmen wir an, wir trinken morgens eine Tasse Kaffee.
- Unachtsam Kaffee trinken heißt:
Andere Dinge nebenher erledigen, mit dem Smartphone spielen, an die nächsten Termine denken oder den Ärger vom Vortag Revue passieren lassen. - Achtsam Kaffee trinken heißt:
Das Getränk mit allen Sinnen wahrnehmen (Gerüche, Geschmacksaromen, Wärme), ohne sich von anderen Einflüssen ablenken zu lassen.
Grundsätzlich können wir Achtsamkeit überall praktizieren – am Frühstückstisch, in der Schule, im Büro, unterwegs oder beim immer beliebter werdenenen Waldbaden . Besonders wichtig ist, dass wir dabei stets eine wertfreie Haltung gegenüber den eigenen Gedanken und Gefühlen einnehmen. Das Mindfulness-Prinzip stuft Empfindungen weder als positiv noch als negativ ein. Stattdessen geht es darum, einfach zu registrieren, was ist – ohne Wenn und Aber. Diese Art der bewussten Wahrnehmung kann Erwachsenen ebenso wie Kinder und Jugendlichen helfen, den alltäglichen Stresspegel nachhaltig zu senken.
Warum ist Achtsamkeit in der Schule wichtig?
Im Zuge des digitalen Wandels muss unser Nachwuchs immer höheren Leistungsanforderungen gerecht werden. Ein Universitätsabschluss ist längst von einem Privileg zu einer Notwendigkeit geworden. Wer sich im modernen Berufsleben behaupten will, muss neben Top-Qualifikationen ein beachtliches Maß an Flexibilität und Einsatzbereitschaft mitbringen. Dementsprechend früh fängt der Stress in der Kindheit an:
Die Kleinen sollen bereits im Kindergarten Fremdsprachen lernen, während der Schulzeit am besten schon Auslandsaufenthalte absolvieren und natürlich das Abitur mit Bestnoten bestehen. Hinzu kommt der Druck, dem vor allem Jugendliche durch soziale Medien ausgesetzt sind. In Zeiten von Facebook, Instagram und Co. fällt es selbst Erwachsenen oftmals schwer, zwischen virtuellen Scheinbildern und dem realen Leben zu unterscheiden.
Es überrascht also nicht, dass viele Heranwachsende unter psychischen Problemen leiden. Aktuellen Studien zufolge zeigen ein Viertel aller deutschen Kinder Verhaltensauffälligkeiten ****. Etwa 10 Prozent sind sogar von Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen betroffen. Hierzu heißt es im Deutschen Ärzteblatt:
„Die Schule besitzt die Aufgabe, psychisch gesundes Aufwachsen zu unterstützen, da sie ein Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche einen großen Teil ihrer Zeit verbringen – verbunden mit sozialen Erfahrungen und Herausforderungen, Lernüberforderungen und psychischen Belastungen ***** .“
An dieser Stelle kommt nun das Stichwort Achtsamkeit ins Spiel. Mithilfe der Mindful-Methode können wir:
- mehr Mitgefühl gegenüber über uns selbst entwickeln
- persönliche Ressourcen besser einschätzen
- emotionale Reaktionen und Handlungsimpulse leichter kontrollieren.
All das sind Fähigkeiten, die wir brauchen, um konstruktiv mit Konflikten umzugehen und Stresssituationen besser zu bewältigen. Daraus lässt sich schlussfolgern: Achtsamkeitsübungen in der Grundschule und an weiterführenden Schulen schaffen beste Voraussetzungen für einen entspannteren Alltag. Zum einen stärken sie das Selbst-Bewusstsein (im wahrsten Sinne des Wortes) und steuern dadurch Depressionen bei Kindern und Jugendlichen entgegen. Gleichzeitig fördern sie ein rücksichts- und respektvolles Miteinander unter Schülerinnen und Schülern. Wie das konkret ablaufen kann, zeigen wir hier anhand einiger Praxis-Beispiele.
Achtsamkeitstraining in der Schule
Das Konzept der Mindfulness stellt die subjektive Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Um einen besseren Umgang mit äußeren Einflüssen zu finden, müssen uns zunächst die eigene Befindlichkeit bewusstmachen. Dementsprechend funktioniert Achtsamkeit in der Schule nur, wenn Lehrkräfte mit gutem Beispiel vorangehen und im ersten Schritt an sich selbst arbeiten. Nachdem sie die Methode selbst erprobt und verinnerlicht haben, können sie ihre Erfahrungen an Schülerinnen und Schüler weitergeben. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, je nach Zielgruppe zwischen verschiedenen Arten von Achtsamkeitsübungen in der Schule zu unterscheiden ******.
Achtsamkeitsübungen für Lehrer
Um die Kunst des achtsamen Unterrichtens zu erlernen, können Pädagogen ganz einfach folgende Übungen in ihren Schulalltag einbauen:
- Achtsames Gehen:
Machen Sie ein paar langsame, bewusste Schritte auf dem Gang, bevor Sie das Klassenzimmer betreten. - Wahrnehmungsübungen im Unterricht:
Während Stillarbeitsphasen können Sie Ihre Umgebung bewusst und ohne Wertung beobachten: Welche Kleidung tragen Ihre Schüler? Welche Gesichtsausdrücke haben sie? Wie bewegen sie sich? - Wahrnehmungsübungen in der Pause:
Nutzen Sie ruhige Momente, um auf die eigenen Empfindungen zu achten: Was fühlen Sie? Was denken Sie? Welche Signale sendet Ihr Körper?
Achtsamkeitsübungen für Kinder & Jugendliche in Schulen
Nachdem LehrerInnen zunächst die eigene Mindfulness trainiert haben, geht es im nächsten Schritt daran, die Praktik in einem pädagogischen Kontext weiterzuvermitteln. Zum Einstieg bieten sich unter anderem folgende Aufgaben an:
Achtsames Sitzen
Geben Sie der Klasse etwa eine halbe Minute Zeit, um die eigene Körperhaltung auf dem Stuhl wahrzunehmen. Danach nehmen Sie einzelne Körperstellen genauer unter die Lupe:
- Wie fühlen sich meine Schultern an?
- Wie fühlen sich meine Hände an?
- Wie fühlen sich meine Füße an?
- Wie fühlt sich der Kontakt zwischen mir und dem Stuhl an?
Abschließend holen Sie ein kurzes Feedback von allen teilnehmenden SchülerInnen ein:
Wie war die Übung? Was ist euch aufgefallen? Worüber habt ihr euch gewundert?
Klangrituale
Glocken oder Klangschalen können dabei helfen, eine konzentrierte Lernatmosphäre zu schaffen. Sobald die Glocke erklingt, kommen alle zur Ruhe und lauschen dem Ton, bis er ganz verhallt. In dieser Zeit konzentrieren sich alle auf den eigenen Körper bzw. Atem. Dieser Vorgang kann wahlweise auch zwei- oder dreimal wiederholt werden.
Fantasiereise
Mit dieser Achtsamkeitsübung können LehrerInnen in der Schule unmittelbar vor oder nach Prüfungssituationen Anspannung und Ängste abbauen. Dafür laden sie ihre Klasse ein, in Gedanken an einen fernen Ort zu reisen. Das läuft folgendermaßen ab:
„Ich stelle mir einen Ort vor, an dem ich sicher bin.“
„Wie sieht dieser Ort aus?“
„Bin ich alleine oder ist jemand bei mir?“
„Was mache ich an diesem Ort? Wie fühle ich mich?“
Abschließend kann noch eine kleine Feedbackrunde stattfinden, in der die SchülerInnen ihre Eindrücke austauschen.
Achtsamer Dialog in der Schule
- Bevor Sie beginnen, sollten Sie klar kommunizieren, dass alles, was während der Übung erzählt wird, streng vertraulich bleibt.
- Als nächstes suchen sich alle SchülerInnen PartnerInnen. Dabei sollten sie bereits darauf achten, welche Gedanken und Gefühle während der Suchphase aufkommen.
- Sobald alle jemanden gefunden haben, stellen sich die Paare eine simple Frage, zum Beispiel: „Wie geht es dir heute?“
- Jetzt müssen die beiden entscheiden, wer zuerst spricht. Auch an dieser Stelle sollten sie bewusst ihre Gedanken und Gefühle beobachten.
- Jeder der beiden spricht abwechselnd eine Minute lang, während der andere zuhört und und sich voll und ganz auf das Gesagte konzentriert – oder auch auf das, was eben gerade nicht gesagt wird.
- Zuletzt gibt es einen offenen Austausch: Wie ging es den SchülerInnen bei der Achtsamkeitsübung? Was war einfach, was war schwierig? War etwas neu und überraschend?
Achtsames Lehren und Lernen: Schritt für Schritt gemeinsam ans Ziel
Grundsätzlich sollten LehrerInnen keine expliziten Erwartungen bei Übungen zur Achtsamkeit äußern – egal ob in der Grundschule oder an weiterführenden Schulen. Viele Schülerinnen und Schüler werden etwas Zeit brauchen, um sich auf die ungewohnten Aufgabenstellungen einzulassen. Einige werden es am Anfang vielleicht auch als unangenehm empfinden. Davon sollten sich Lehrkräfte aber nicht zu schnell entmutigen lassen. In den meisten Fällen ist einfach etwas Geduld und Durchhaltevermögen gefragt, bis ihre Angebote die gewünschte Wirkung zeigen. Wie in jeder anderen Lebenslage lautet die Zauberformel für Achtsamkeit in der Schule: Üben, Erfahrungen sammeln, lernen und über sich hinauswachsen.
* QUELLE: Youtube
** QUELLE: Achtsamkeit.com
*** QUELLE: ZDF.de
**** QUELLE: DAK.de
***** QUELLE: Ärzteblatt.de
****** QUELLE: Institut Achtsame Kommunikation