Essstörungen gemeinsam heilen: Familien im Fokus der systemischen Therapie
Essstörungen wie Anorexia nervosa (Magersucht), Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) oder Binge-Eating-Störung gehören zu den ernstzunehmenden psychischen Erkrankungen. Diese Krankheiten beginnen häufig bereits im Jugendalter und können, wenn sie unbehandelt bleiben, lebensbedrohlich werden. Etwa 14 von 1.000 Frauen erkranken an Magersucht, 19 an Bulimie und 28 an Binge-Eating-Störung1.
Klassische Therapien fokussieren sich oft ausschließlich auf das individuelle Verhalten, während die systemische Therapie das gesamte Umfeld – insbesondere die Familie – als zentrale Ressource betrachtet2.
Die systemische Sichtweise stellt die Frage: Wie können wir die Familie als Ressource im Heilungsprozess nutzen? Durch die Einbindung der Familie wird das Problem als gemeinschaftliche Herausforderung gesehen, wobei jeder Ressourcen und Stärken beisteuert.
Was ist systemische Therapie bei Essstörungen?
Die systemische Therapie hat ihren Ursprung in der Familientherapie und erweitert diesen Ansatz, indem sie alle relevanten Beziehungssysteme einbezieht. Im Kern geht es darum, den Menschen als Teil seines sozialen Umfelds zu verstehen. Probleme werden nicht als isolierte Fehler betrachtet, sondern als Ausdruck von Schwierigkeiten im Gesamtsystem3.
Bei Essstörungen wird nicht nur das Essverhalten analysiert, sondern auch die Funktion, die es im familiären Kontext erfüllt – sei es als Hilferuf, Ventil oder als ein Versuch, Kontrolle auszuüben.
Bereits in den ersten Sitzungen werden gemeinsam Hypothesen erarbeitet: Wann und warum ist die Essstörung entstanden? Welche Funktion hat sie im familiären Gefüge? Diese Fragen ermöglichen es, alle Beteiligten aktiv einzubinden, ohne nach einem Schuldigen zu suchen.
Stattdessen liegt der Fokus auf der Erkennung positiver Anliegen hinter den Symptomen. Die Methode der Externalisierung verhilft dazu, die Essstörung als ein äußeres Problem zu betrachten – ein Ansatz, der alle Familienmitglieder entlastet und sie in den Kampf gegen die Krankheit einbezieht.
Aktivierung von Ressourcen innerhalb der Familie
Familie als Ressource: Wie helfen Angehörige bei der Behandlung?
Die systemische Therapie betont die Aktivierung von Ressourcen innerhalb der Familie. Jede Familie besitzt Stärken wie Liebe, Fürsorge, gemeinsame Rituale und Humor, die im Heilungsprozess genutzt werden können. Familiengespräche im therapeutischen Rahmen ermöglichen es, diese positiven Aspekte zu entdecken und zu stärken.
Eltern lernen, ihre Kinder trotz Essstörungen liebevoll und unterstützend zu begleiten, ohne in Vorwürfe oder Zwang zu verfallen. Geschwister tragen durch ihre individuellen Perspektiven dazu bei, Missverständnisse aufzuklären. Studien belegen, dass eine gute Einbindung der Familie den Stress reduziert und die inneren Konflikte der Betroffenen verringert3.
Ein besonders erfolgreicher Ansatz ist die familienbasierte Therapie (FBT), basierend auf dem Maudsley-Modell. Hier werden Eltern als zentrale Heilungsfaktoren gesehen – nicht als Ursache der Erkrankung, sondern als aktive Helfer im Genesungsprozess4. In der ersten Phase übernehmen die Eltern vorübergehend die Verantwortung für die Ernährung ihres Kindes, was sich in einer frühzeitigen Gewichtszunahme als positives Prognosezeichen zeigt. In der zweiten Phase wird schrittweise mehr Eigenverantwortung übertragen, um Autonomie und Selbstständigkeit zu fördern3,4.
Wichtig: Die Familie wird als ganzheitliche Einheit betrachtet, in der Ressourcen aktiviert und Stärken ausgebaut werden – statt Schuldzuweisungen vorzunehmen.
Essstörungen: Wirksamkeit und aktuelle Entwicklungen
Die Wirksamkeit der systemischen Therapie bei Essstörungen ist durch zahlreiche Studien wissenschaftlich belegt. Internationale Leitlinien empfehlen sie insbesondere bei jugendlichen Patient*innen mit Anorexie und Bulimie4. Randomisierte Studien zeigen, dass die familienbasierte Therapie bei Teenagern mit Anorexie deutlich wirksamer ist als eine reine Einzeltherapie4. Auch bei Bulimie gilt die Einbeziehung der Familie als entscheidender Erfolgsfaktor.
Für Binge-Eating-Störungen und Adipositas zeigt sich der Ansatz der systemischen Therapie vielversprechend, wenngleich die Forschung hier noch in den Anfangsstadien steckt. Auch bei Erwachsenen, die meist in Einzelsettings behandelt werden, kann die Einbindung des sozialen Umfelds – etwa des Partners oder nahestehender Personen – den Therapieerfolg langfristig sichern und Rückfällen vorbeugen. Zusammengefasst sind Familientherapie und systemische Interventionen evidenzbasierte Ansätze, die den Behandlungserfolg verbessern und Rückfälle reduzieren3.
In einem sicheren therapeutischen Rahmen können alle Beteiligten ihre Gefühle und Perspektiven offen austauschen. Dies führt zu einer verbesserten Kommunikation und einem stärkeren Zusammenhalt3,4.
Binge-Eating-Störungen: Der Ansatz der systemischen Therapie ist vielversprechend
Aktuelle Zahlen und Trends:
Die Zahl der Essstörungsfälle – insbesondere bei Jugendlichen – ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Experten führen diesen Anstieg auch auf die psychischen Belastungen der COVID-19-Pandemie zurück1. Diese Entwicklung unterstreicht die Dringlichkeit, frühzeitig und familienorientiert zu intervenieren.
Zudem wurde 2019 die systemische Therapie in Deutschland als Kassenleistung für Erwachsene eingeführt2. Für Kinder und Jugendliche zeichnet sich ab, dass diese Methode bald noch stärker etabliert wird, da neue Studien klare Vorteile gegenüber konventionellen Therapieformen belegen2,5.
Praktische Tipps für Angehörige bei Essstörungen
Auch Angehörige können einen entscheidenden Beitrag zum Heilungsprozess leisten. Frühzeitige Hilfe und offene Kommunikation sind hierbei essenziell. Informieren Sie sich über das Krankheitsbild und bleiben Sie im Austausch – Schuldzuweisungen helfen in keiner Situation weiter.
- Tipp 1:
Suchen Sie zeitnah professionelle Unterstützung. - Tipp 2:
Pflegen Sie gemeinsame Rituale und stabile Alltagsstrukturen. - Tipp 3:
Feiern Sie auch kleine Fortschritte und nehmen Sie Rückschläge als Teil des Genesungsprozesses
Wichtig: Vergessen Sie nicht Ihre eigene Selbstfürsorge – nur wenn es der gesamten Familie gut geht, können Sie effektiv zur Heilung beitragen.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen:
Essstörungen werden am besten gemeinsam bewältigt. Die systemische Therapie setzt auf ganzheitliche Ansätze und nutzt die natürlichen Ressourcen der Familie, um die Krankheit zu bekämpfen. Eltern, Geschwister und Partner werden zu verbündeten Partnern im Therapieprozess.
Diese ressourcenorientierte Herangehensweise fördert nicht nur den Heilungsprozess der Betroffenen, sondern stärkt auch das familiäre Miteinander. Statt Schuldzuweisungen lernen alle Beteiligten, gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Dies führt zu einem positiven, nachhaltigen Therapieerfolg.
Die systemische Therapie bei Essstörungen bietet einen ganzheitlichen Blick auf das Problem und zeigt, dass Ressourcen und Zusammenhalt entscheidende Faktoren auf dem Weg zur Genesung sind.
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Quelle1:
BZgA – Essstörungen. Wie häufig sind Essstörungen?
bzga-essstoerungen.de
Quelle2:
IQWiG – Pressemitteilung (19.08.2022). Systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen: Vorteile bei bestimmten psychischen Störungen.
iqwig.de
Quelle3:
DGSF – Familientherapie und Systemische Praxis. Was heißt systemisch?
dgsf.org
Quelle4:
Pasi, P. & Pauli, D. (2019). Systemische Therapien bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Essstörungen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 68(8), 705–710.
squarespace.com
Quelle5:
Charité – Universitätsmedizin Berlin. Neue Erkenntnisse zur familien-basierten Therapie bei Magersucht (Paper Spotlight vom 13.12.2023).
charite.de
