Selbstoptimierung: Flüchtiger Trend oder gefährliches Phänomen?
Die Herausforderungen, die wir im modernen Alltag bewältigen müssen, wachsen ständig. Der Leistungsdruck fängt oft schon im Kindergarten an: Unser Nachwuchs soll am besten schon vor der Einschulung Fremdsprachen lernen und später natürlich ein Hochschulstudium absolvieren (idealerweise im Ausland). Auch danach ist keinesfalls Ausruhen angesagt. In Zeiten von Arbeit 4.0 werden die Anforderungen im Berufsleben immer höher. Daneben gilt es, Karriere und Familie unter einen Hut zu bekommen – oder den richtigen Partner dafür zu finden. Wie wir das alles auf einmal schaffen sollen? Für viele lautet die Antwort: Selbstoptimierung! Das Prinzip scheint auf den ersten Blick denkbar einfach: Je besser wir uns fühlen, desto mehr können wir leisten, und umgekehrt. Aber ist es wirklich ratsam, ständig nach dem perfekten Leben zu streben? Welchen Preis müssen wir für unser „Best Self“ zahlen? Und wo liegen die Grenzen zwischen einem gesunden Selbstwertgefühl und krankhaftem Narzissmus? Diesen Fragen gehen wir im Folgenden auf den Grund.
Möglichkeiten der Selbstoptimierung
Was „Mein besseres Ich“ im Einzelnen bedeutet, kann von Mensch zu Mensch variieren. Die einen würden gerne das Rauchen aufgeben oder ein paar überflüssige Pfunde verlieren. Bei den nächsten steht eine erfolgreiche Karriere im Vordergrund. Andere möchten dagegen eher inneren Stress abbauen . Dementsprechend gibt es verschiedenste Mittel, zu denen wir auf dem Weg zum optimierten Selbst greifen.
Physische Selbstoptimierung
Körperliche Fitness hat für viele oberste Priorität. Dabei reicht es oft nicht, im medizinischen Sinne „gesund“ zu bleiben. Darüber hinaus wollen wir besonders schlank oder besonders muskulös werden. Auch das Älterwerden sollte man uns bestenfalls nicht ansehen. Dafür nehmen wir schweißtreibende Fitnessprogramme in Kauf und halten uns an strenge Ernährungspläne – von Paleo und Keto bis hin zu Rohveganismus und Intervallfasten. Manche gehen noch einen Schritt weiter und schaffen sich mittels Schönheits-OP einen „makellosen“ Körper.
Psychische Selbstoptimierung
Nicht nur äußerlich, auch innerlich soll alles perfekt stimmen. Schließlich werden wir nur dann eine tolle Ausstrahlung haben, wenn wir uns selbst rundum wohlfühlen. Dementsprechend arbeiten viele Menschen intensiv daran, ihre persönliche Einstellung ins Positive zu lenken. Auch hier gibt es verschiedene Ansätze. Beispielsweise lässt sich der innere Einklang mithilfe von Yoga- und Meditationsübungen herstellen. Zusätzlich können wir uns Unterstützung von Experten holen: Die Liste an potenziellen Ansprechpartner*innen reicht von Life-Coach-Anbieter*innen bis hin zu PsychiaterInnen.
Berufliche Selbstoptimierung
Nicht zuletzt messen wir unseren Selbstwert auch daran, was wir in der Schule, im Studium oder auf der Arbeit erreichen. Natürlich können die jeweiligen Zielsetzungen sehr unterschiedlich ausfallen: Während manche vom großen Geld träumen, möchten andere kranke Menschen heilen oder für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen. In jedem Fall gilt allerdings: Das Beste ist gerade gut genug. Wenn wir unseren eigenen Ansprüchen oder denen unserer Vorgesetzten nicht gerecht werden, werten wir das oftmals als persönliches Versagen. Folglich nehmen wir uns vor, künftig noch gründlicher, strukturierter und produktiver zu arbeiten. Dafür besuchen wir regelmäßig Weiterbildungen, machen Überstunden und verschieben wenn nötig auch den lang ersehnten Urlaub.
Wenn Selbstzweifel krankmachen
Bei den Ausmaßen, die unser Streben nach Selbstoptimierung heutzutage annimmt, stellt sich schnell die Frage: Kann das noch gesund sein? Paradoxerweise wächst mit dem Interesse am „besten Ich“ gleichzeitig auch die Verbreitung von psychischen Erkrankungen. Aktuelle Statistiken geben zu denken:
- Schätzungen zufolge sind allein in Deutschland knapp 30 % der erwachsenen Bevölkerung von Angststörungen, Depressionen und ähnlichen Krankheiten betroffen.*
- Zwischen 1999 und 2019 hat sich die Zahl an Fehltagen, die unter Arbeitnehmern wegen psychischer Belastungen auftreten, verdreifacht.**
- Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2018 leiden etwa 50 % der Deutschen an Beschwerden, die auf Burnout hinweisen. Dazu gehören beispielsweise chronische Erschöpfung, innere Anspannung oder Rückenschmerzen.***
Was können wir nun daraus schlussfolgern? Allem Anschein nach führt der Wunsch nach dem perfekten Selbst nicht unbedingt dazu, dass wir glücklicher werden. Im Gegenteil: Je mehr wir uns darauf fokussieren, noch fitter, schneller und produktiver zu werden, desto weniger entspannt fühlen wir uns auf Dauer.
Von der Selbstoptimierung zum Narzissmus?
Genau genommen impliziert die Idee der Selbstoptimierung, dass es immer Verbesserungspotenzial gibt. Damit landen wir letzten Endes bei der Erkenntnis: „Ich bin niemals gut genug.“ Dieser Gedanke legt wiederum den Grundstein für Erkrankungen wie:
- Depressionen
- Burnout
- Angststörungen
Hinzu kommt eine weitere bedenkliche Nebenwirkung: Der Hang zum Narzissmus. Per Definition zeichnen sich narzisstische Menschen dadurch aus, dass sie extrem selbstbezogen und auf äußere Bestätigung angewiesen sind. Der amerikanische Sozialkritiker Christopher Lasch mahnte bereits Ende der 1970er Jahre, dass die moderne Gesellschaft ideale Voraussetzungen für solche Persönlichkeiten schafft.**** Auch heute warnen viele Experten davor, dass die perfekte Selbstinszenierung in Zeiten von Social Media und „Selfies“ einen zunehmend hohen Stellenwert einnimmt.***** Aber heißt das nun, wir werden unweigerlich in Eitelkeit verfallen, wenn wir ein besseres Ich anstreben? Keineswegs. Denn wie so oft kommt es auch bei der Selbstoptimierung auf das richtige Maß an.
Selbstfürsorge statt Selbstverbesserung
Damit wir unser Wohlbefinden langfristig steigern können, müssen wir zunächst wissen, was dieses Wohlbefinden überhaupt ausmacht. Viel zu oft hängt unser Selbstbewusstsein von messbaren Errungenschaften und der Anerkennung durch andere ab. Genau diese Sichtweise hat aber zur Folge, dass wir nur geringes oder gar kein Selbstwertgefühl haben. Grundsätzlich sollten wir unser Ich nicht darüber definieren, was wir leisten. Die Kunst der Selbstliebe liegt vielmehr darin, zu akzeptieren, wer wir sind – und zwar mit allem, was dazu gehört. Das ist natürlich oft leichter gesagt als getan. Gerade am Anfang kann es daher nie schaden, professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen. Hierfür empfehlen sich zum Beispiel Fachkräfte, die eine zusätzliche Ausbildung zum Systemischen Fachcoach für Stressbewältigung und Burnoutprävention oder eine Ausbildung im Mentaltraining absolviert haben. Davon abgesehen gibt es auch ein paar allgemeine Tipps, mit denen die „Selbstoptimierung“ ganz ohne Leistungsdruck gelingt:
- Bauen Sie Entspannungsübungen in den Alltag ein (z. B. progressive Muskelentspannung oder autogenes Training).
- Gönnen Sie sich jeden Tag eine kleine Auszeit – sei es der Kaffee am Morgen, ein Spaziergang am Nachmittag oder die Lieblingsserie am Abend.
- Fragen Sie nicht „Was will ich?“, sondern „Was brauche ich?“. Je mehr Sie auf Ihre Bedürfnisse hören, desto weniger werden Sie sich selbst überfordern. Das gilt gleichermaßen für Körper, Geist und Seele.
- Setzen Sie sich kurzfristige Teilziele. Anstatt jetzt schon die Beförderung im nächsten Jahr zu planen, konzentrieren Sie sich beispielsweise darauf, den Schreibtisch aufzuräumen oder die Steuererklärung zu erledigen. So können Sie Tag für Tag kleine Erfolge feiern.
Schlussendlich gibt es nicht die eine, richtige Formel für ein „besseres Leben“. Jeder bzw. jede von uns hat individuelle Ansprüche und Ziele. Dabei ist es jedoch wichtig, einen klaren Unterschied zwischen der eigenen Leistung und dem eigenen Wert zu machen. Denn langfristig funktioniert Selbstoptimierung nur, wenn wir dabei unser authentisches Ich (mit all seinen Ecken und Kanten) nicht aus den Augen verlieren.
* Quelle: dgppn.de
** Quelle: aerzteblatt.de
*** Quelle: aerzteblatt.de
**** Quelle: spiegel.de
***** Quelle: sueddeutsche.de