Toxic Positivity – Und was ist verkehrt daran ?
Nicht nur auf Social-Media-Kanälen bekommen wir es tagtäglich vor Augen geführt: Schaut mal wie glücklich ich bin! Wie toll meine Familie ist! Wie erfolgreich ich bin und mir diesen tollen Urlaub leisten kann! Wie ich alles mit einem Lächeln schaffe und dabei immer, immer positiv bleibe, auch wenn ich Schicksalsschläge erleiden muss.
Zwanghaft glücklich sein schwappt gerade vermehrt in unsere alltägliche Wahrnehmung über. Diese Positivität kann giftig, toxisch sein. Toxic Positivity, ist der englische Begriff dafür, begegnet uns heute an jeder Ecke, egal ob es um die aktuelle wirtschaftliche Situation geht oder um die Konfliktvermeidung am Arbeitsplatz oder sogar in der Familie. Wir stellen die Frage, ob positives Denken und zwanghafter Optimismus auf Dauer unserer Psyche gefährlich werden kann? Welche Folgen hat es für das Individuum und die Gesellschaft im allgemeinen, wenn negative Emotionen zurückgestellt werden? Wir versuchen das Phänomen zu greifen.
Woher kommt Toxic Positivity?
Um das Phänomen toxischer Positivität oder auch toxic positivity zu erklären, müssen wir zunächst in die Online-Welt eintauchen. Auf Instagram, Facebook und Co fallen die Hinweise kontinuierlich ins Auge:
- Perfekte, strahlende Bildwelten
- Inspirierende Sinnsprüche, Lebensweisheiten und -einstellungen
- Hashtags wie #staypositive #goodvibesonly oder #enjoyeveryday
- Alterslose, perfekte, schöne Menschen
Schnell kommen einem selbst da Zweifel: Wo stehe ich eigentlich gerade in meinem Leben? Welche Ziele habe ich im Gegensatz zu den ach, so glücklichen, shiny happy people auf den Social-Media-Kanälen eigentlich schon erreicht? Warum kann ich nicht auch so tolle Dinge erleben, Reisen, schön sein und tagtäglich Positivität ausstrahlen? Die Positivität und die klugen Ratschläge, die uns allen täglich entgegenschlägt, kann erdrückend sein. Das Problem dabei ist, dass diese Bilder und Posts immer nur einen Ausschnitt der Realität aufzeigen. Immer mehr Menschen verlieren zunehmend den Bezug dazu, was Wahrheit und was geschönt ist, so die Psychologin Linda Leinweber1, die sich in den letzten Jahren als Expertin immer wieder mit diesem Phänomen beschäftigt.
Toxic Positivity: Ein Definitionsversuch
Toxic Positivity oder toxische Positivität bedeutet, dass Menschen alles auf dem Weg zu einem glücklichen Leben mit einem einzigen Motto begleiten: Positiv bleiben, komme was wolle. Sich also nur auf die positiven Aspekte im Leben zu konzentrieren und alles andere gezielt auszublenden2.
Dieses Verdrängen von Negativem bezieht sich bei toxischer Positivität nicht nur auf das Individuum selbst, sondern auch auf das Gegenüber. Das heißt, die negativen Gedanken und Probleme des Anderen werden ebenfalls nicht angenommen.
Toxic Positivity offline
Nicht nur online begegnen wir heute Toxic Positivity. Das beginnt schon bei kleinen Dingen wie der Frage danach, wie es uns geht. Die meisten Menschen antworten darauf einfach mit „gut“. Dabei ist das meistens nicht so, denn niemand kann ständig nur gut gelaunt sein. Damit verstecken wir, vielleicht aus Angst, in den Augen des Gegenübers schlecht dazustehen, wie es uns wirklich geht.
Auch in der Arbeitswelt zieht dieses krampfhaft positive Gefühl verstärkt ein. In unserer Leistungsgesellschaft wird ein schlechter Tag nicht gerne gesehen. Besonders Berufsanfänger, als ältere/r Arbeitnehmer*in oder als Neuer im Team möchte man ja auch nicht „falsch“ wahrgenommen werden. Doch es gibt nun mal auch unproduktive Tage. Mittlerweile finden sich Anzeichen für toxische Positivität und deren Auswirkungen auch im Familienkreis.
Immer glücklich sein als gesellschaftlicher Anspruch
Warum genau konnte sich Toxic Positivity in unserer Gesellschaft integrieren? Die simple Antwort lautet: Positive Phrasen und Einstellungen bieten einen einfachen Ausweg. Viel zu oft wird das Leben in schwarz-weiß gedacht und damit vereinfacht. So auch bei der toxisch, krampfhaften Positivität. Das ist zunächst etwas ganz Natürliches, so Expert*innen. Wir möchten alle ein erfülltes, glückliches Leben haben, die Glücksmomente und Erfolge möchten wir gerne mit anderen teilen. Das positive Feedback, das wir beispielsweise durch die Social-Media-Likes oder andere Anerkennung erhalten, lässt unseren Körper Dopamin, das Glückshormon, ausschütten. Dadurch entsteht der Drang, nur die schönen Dinge zu teilen und immer mehr positive Resonanz zu erhalten.
Negative Gefühle verboten
Viele Menschen haben heute Angst davor, negative Gefühle zuzulassen oder gar offen darüber zu sprechen. Dazu gehören nicht nur die eigenen Probleme, sondern auch die von Freund*innen oder Familienangehörigen. Das ist auch eine Frage von fehlender Empathie, also der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Stattdessen verlieren wir uns lieber in scheinbarer Positivität – Probleme werden angesprochen und ausgeblendet.
Für die britische Therapeutin Sally Baker3 und weitere Experten besteht genau darin das Gefahrenpotenzial von Toxic Positivity: Wer dauerhaft und krampfhaft positiv ist, der blendet alle emotionalen Aspekte, die wir ganz natürlich gegenüber einer Situation empfinden, zunächst aus. Ängste, Zweifel, negative Gefühle, alles wird negiert.
Folgen von Toxic Positivity
Dauerhaft positiv eingestellt sein, das kostet viel Kraft. Denn nur weil unangenehme oder schwierige Gefühle und Situationen vermieden werden, sind sie bei weitem nicht verschwunden. Auf Dauer schafft dieses Verdrängen den Nährboden für viele psychische Erkrankungen, da wir uns nicht mehr mit der Vielschichtigkeit unserer Emotionen auseinandersetzen, uns darüber austauschen und diese dadurch aktiv verarbeiten. Folgen von Toxic Positivity können sein:
- Verschobene Selbstwahrnehmung
- Schlafmangel
- Psychische Belastungen bis hin zu Depressionen
Doch nicht nur psychische Folgen können bei dauerhaft zwanghafter Positivität auftreten. Auch körperliche Folgen treten auf, diese sind oft durch zusätzliche Aspekte wie zum Beispiel Doping am Arbeitsplatz, das aus dem Leistungsdruck entsteht, oder krankhafter Selbstoptimierung verstärkt.
Eine gravierende gesellschaftliche Folge von Toxic Positivity ist, dass negative Gefühle wie Wut, Trauer, Angst oder Hilflosigkeit und das spüren dieser Emotionen tabuisiert werden. Durch dieses Tabu fallen dann auch psychische Erkrankungen unter eine Art Stigma – sie passen einfach nicht in eine scheinbar durchweg positive Welt.
Das können Sie für sich tun
Die beste Möglichkeit, nicht in die Falle der Toxic Positivity zu tappen, ist es, Gefühle, ganz gleich ob sie positiv oder negativ sind, zuzulassen. Dabei hilft eine Achtsamkeit gegenüber sich selbst und anderen. Wenn wir uns von uns selbst und unseren Gedanken immer mehr entfremden, dann verlieren wir das Wesentliche aus den Augen. Echte gute Laune und damit auch Positivität entsteht vor allem dann, wenn wir uns der negativen Aspekte des Lebens bewusst sind und diese nicht ausblenden. Helfen kann außerdem:
- Smartphone und die Social-Media-Kanäle vor dem Schlafengehen meiden: Gefühle gelten als Botschafter für Bedürfnisse, wenn wir also den eigenen Tag vor dem Schlaf Revue passieren lassen, statt uns mit anderen zu vergleichen, können wir ihn verarbeiten, bei uns sein, anstatt neue Bedürfnisse zu schüren.
- Newsfeeds und wem wir folgen, mit Bedacht auswählen: Gerade auf Social Media haben wir es in der Hand, wen wir abonnieren. Authentizität sollte beim Folgen eine große Rolle spielen – wer auch unschöne Seiten des Lebens auf Social Media zulässt, der verdrängt sie nicht.
- Ehrlichkeit an den Tag legen: Es geht Ihnen schlecht? Dann kommunizieren sie das auch so an Freunde und Familie. Nicht jeder kann immer nur glücklich sein und das ist gut so. Wer das schon in der Familie lebt, der wird nicht nur seine Resilienz fördern, sondern auch das Selbstbewusstsein seiner Kinder stärken.
Expert*innen empfehlen außerdem regelmäßig Sport zu treiben oder zu meditieren, um den eigenen Körper und die Emotionen zu erspüren. Einfach eine Runde alleine Spazieren gehen kann Sie übrigens auch dabei unterstützen, mal wieder tief in sich selbst hineinzuhören und Probleme zu identifizieren.
Toxic Positivity mit Weiterbildungen im Bereich Achtsamkeit entgegentreten
Sie möchten anderen Menschen dabei helfen, den Bezug zu sich selbst und ihren Gefühlen (positiv wie negativ) wieder herzustellen? Bei campus naturalis finden Sie ein breites Angebot an Aus- und Weiterbildungen, die nicht nur Ihnen, sondern auch Ihren Mitmenschen weiterhelfen.
- Unsere Ausbildung zum/zur Kursleiter*in in Achtsamkeit und Meditation beispielsweise gibt Ihnen Techniken an die Hand, um Achtsamkeit wieder im Alltag zu stärken.
- Mit unserer Ausbildung in Systemischem Mentaltraining erlernen Sie Methoden, die Ihre Mitmenschen dabei unterstützt, sich selbst in privaten und beruflichen Gefügen wieder wahrzunehmen.
- Belegen Sie ein Seminar zum/zur Kursleiter*in Autogenes Training
- Die progessive Muskelentspannung ist eine ideale Methode, um im therapeutischen und präventiven Bereich tätig zu sein.
Informieren Sie sich bei unseren Expert*innen zu weiteren Möglichkeiten einer hochwertigen Aus- und Weiterbildung oder einem Seminar mit ganzheitlicher Basis.
Fazit: Positivity muss nicht zwangsweise Toxic sein
Ganz klar: Eine positive Einstellung zum Leben ist generell nicht verkehrt. Toxic Positivity, die zwanghaft alles Negative ausblendet oder nicht wahrhaben möchte, ist allerdings auf Dauer sehr gefährlich. Gerade für Kinder und Jugendliche sind diese verzerrten Bilder und Wahrnehmungen der Realität eine wirkliche Herausforderung. Daher sollten wir alle bewusster mit unseren positiven und negativen Gefühlen umgehen und diese Schwierigkeiten auch aktiv kommunizieren und erleb- und erlernbar machen. Denn wenn Positivität toxisch wird, dann erleben wir uns und unsere Welt nicht mehr in all ihren Schattierungen.
Quelle1+2: apotheken-umschau.de
Quelle3: health-bar.com