24. August 2022

Traumatherapie für Flüchtlingskinder: praktische Unmöglichkeit oder zwingende Notwendigkeit?

Traumatherapie bei Flüchtlingskindern

Im vergangenen Jahrzehnt erlebte Europa eine beispiellose Migrationswelle. 2015 fand die sogenannte „Flüchtlingskrise“ mit insgesamt über 1,3 Millionen Asylanträgen ihren Höhepunkt *. Davon entfielen knapp eine halbe Million allein auf Deutschland **. Im Zuge dieser Entwicklung stehen wir vor großen neuen Herausforderungen. Insbesondere Kinder und Jugendliche benötigen intensive Unterstützung und Betreuung, um nach der Flucht in einem fremden Land Fuß zu fassen. Oftmals haben Geflüchtete Unfassbares gesehen und erfahren, bevor sie in Deutschland angekommen sind. Vor diesem Hintergrund bieten immer mehr Einrichtungen Traumatherapien speziell für Flüchtlingskinder an. Worauf Fachkräfte dabei achten müssen und wie auch Freunde und Bekannte einen Beitrag leisten können, erfahren Sie hier.

Flucht und Trauma im pädagogischen Kontext

Wer die richtige Lösung für ein Problem finden will, muss im ersten Schritt das Problem selbst identifizieren und verstehen lernen. Das gilt insbesondere für Außenstehende, die Flüchtlingskindern im Rahmen einer Traumatherapie helfen möchten. Es stellt sich also zunächst die Frage: Wie hängen Flucht und Trauma zusammen, und wodurch fallen traumatisierte Kinder und Jugendliche auf? Um darauf Antworten zu finden, verwendet die moderne Forschung den Begriff der „sequentiellen Traumatisierung***. Dieses Modell wurde in den siebziger Jahren von dem niederländischen Psychiater Hans Keilson entwickelt und teilt Flucht und damit verbundene Traumata in drei Stufen ein:

  1. Sequenz:
    Situation im Heimatland vor der Flucht, geprägt von Umständen wie Krieg, Verfolgung, Unterdrückung, oder Armut.
  2. Sequenz:
    Die tatsächliche Flucht, geprägt von existenzieller Entbehrung, Verlust, Trennung, Gewalt oder sogar Lebensgefahr.
  3. Sequenz:
    Das Leben im Asylland ist geprägt von Kulturschocks, Isolation, Heimweh, prekären Lebensverhältnissen und jahrelangen Asylverfahren mit ständig drohender Abschiebung.
Flucht vor Krieg, Verfolgung, Unterdrückung, oder Armut

Flucht vor Krieg, Verfolgung, Unterdrückung, oder Armut

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass viele Menschen nach einer Flucht mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu kämpfen haben. Aktuelle Statistiken geben Grund zur Sorge:

  • Flüchtlinge sind im Allgemeinen im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund zehnmal mehr gefährdet, an einer PTBS zu erkranken.
  • Im Durchschnitt leiden mindestens 30 % aller neu aufgenommenen Asylbewerber an PTBS.
  • Laut der Fachgesellschaft für Psychotraumatologie belaufen sich die Zahlen bei Kriegs- Vertreibungs- und Folteropfern sogar auf 50%****

Es besteht also kein Zweifel: Flüchtlingskinder brauchen dringend Traumatherapien. Aber woran erkennen verantwortliche PädagogInnen traumatisierte Kinder im Kindergarten oder in der Schule? Es ist wichtig, sich einen Überblick über die wichtigsten Symptome zu verschaffen, um rechtzeitig handeln zu können.

Folgen der Traumatisierung bei Flüchtlingskindern

In vielerlei Hinsicht fängt die Arbeit nach der Flucht erst richtig an. Zwar befinden sich Flüchtlinge im Zielland nicht mehr in Lebensgefahr, dafür geraten sie jedoch in einen Zustand der „chronifizierten Vorläufigkeit“. Diese Zerrissenheit zwischen bisherigem Leben und neuer Realität stellt vor allem für Kinder eine enorme psychische Belastung dar. Das kann sich auf unterschiedlichste Weise bemerkbar machen. Der Dokumentationsfilm „Life Overtakes Me “ (erschienen 2019 auf dem Streaming-Portal Netflix) zeigt beispielsweise, wie junge Flüchtlinge in Schweden an dem sogenannten Resignationssyndrom erkranken: Während ihre Familien auf eine endgültige Aufenthaltsgenehmigung warten, verfallen Kinder in einen komatösen Zustand, aus dem sie manchmal erst Jahre später wieder erwachen. Es muss jedoch nicht unbedingt ein solcher Extremzustand vorliegen, um eine Traumatherapie bei Flüchtlingskindern zu veranlassen. Zu den wesentlichen Symptomen einer PBTS zählen:

  • Unkontrollierbare Gedanken und Flashbacks:
    Das Kind wird immer wieder unerwartet von schlimmen Erinnerungen heimgesucht. Solche Intrusionen treten meist in Verbindung mit bestimmten Triggern auf, die das Trauma im Hier und Jetzt wachrufen. Oft reichen scheinbar alltägliche Gerüche, Geräusche oder Farben aus, um das betroffene Kind in einen emotionalen Ausnahmezustand zu versetzen.
  • Ängste:
    Je nachdem, welche Art von Trauma Kinder erfahren haben, können sie extreme Furcht vor bestimmten Situationen entwickeln. Um diese Ängste zu triggern, genügt es meist schon, dass eine bestimmte Kleidung oder Körperhaltung sie an einen Menschen erinnert, der ihnen oder ihrer Familie etwas Schreckliches angetan hat.
  • Disassoziation:
    Wenn ein Erlebnis zur unerträglichen Belastung wird, kann es auch vorkommen, dass sich traumatisierte Flüchtlinge buchstäblich „ausklinken“ und ihre Umgebung zeitweise gar nicht mehr wahrnehmen.
  • Hypervigilanz:
    Viele Flüchtlingskinder befinden sich in einem permanenten Alarmzustand, sodass sie kaum mehr zur Ruhe kommen. Das kann auch zu chronischen Schlafstörungen führen.
  • Regressives Verhalten:
    Vor allem jüngere Kinder fallen nach traumatischen Ereignissen oftmals in frühere Entwicklungsstadien zurück, was sich beispielsweise in Form von Bettnässen oder Daumenlutschen äußert.
Posttraumatische Belastungsstörung (PBTS)

Posttraumatische Belastungsstörung (PBTS)

Wenn Angehörige oder Außenstehende solche Symptome bei Flüchtlingskindern bemerken, sollten sie so früh wie möglich eine professionelle Traumatherapie in die Wege leiten. Denn eine unbehandelte Posttraumatische Belastungsstörung (PBTS) kann gravierende Folgeschäden haben, die im Erwachsenenalter schlimmstenfalls sogar in einer chronischen Erkrankung und Arbeitsunfähigkeit enden. Aber welche Möglichkeiten bieten sich hierfür konkret? Wir haben für Sie einen Überblick über die wichtigsten Anlaufstellen und Ansätze zusammengestellt.

Therapie mit traumatisierten Flüchtlingskindern: Von der Theorie zur Praxis

Aus wissenschaftlicher Sicht ist therapeutische Unterstützung nach der Flucht nicht nur sinnvoll, sondern oftmals unverzichtbar. Die praktische Umsetzung gestaltet sich allerdings nicht immer einfach:

  • Kinder haben keine Vorstellung davon, was eine Psychotherapie überhaupt ist. Wenn Sie dann noch die westlich geprägte Kultur nicht kennen, müssen sehr viel Neues aufnehmen und können sich nur langsam und nach und nach mit der ungewohnten und neuen Situation vertraut machen.
  • Vor allem Jungen haben oft Schwierigkeiten, Emotionen wahrzunehmen und darüber zu sprechen.
  • Wenn die Kinder erst kurze Zeit in Deutschland leben, kann auch die sprachliche Verständigung zu einem Problem werden.

Inzwischen gibt es in Deutschland zahlreiche Maßnahmen, die Flüchtlingskindern trotz dieser Hindernisse eine Traumatherapie ermöglichen. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfF) umfasst insgesamt mehr als 40 Mitgliedszentren und Fördermitglieder *****, darunter:

  • REFUGIO München – Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer e.V.
  • XENION Berlin – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte
  • FATRA Frankfurt/M. – Frankfurter Arbeitskreis Trauma und Exil e.V.
Traumatherapie - In Deutschland bereits zahlreiche Maßnahmen

Traumatherapie – In Deutschland bereits zahlreiche Maßnahmen

In diesem Kontext arbeiten neben SozialarbeiterInnen und PädagogInnen vor allem Fachkräfte, die eine Ausbildung für Systemische Traumatherapie oder vergleichbare Qualifikationen mitbringen.
Für den Umgang mit Flüchtlingskindern und -jugendlichen eignet sich besonders eine traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (TF-KVT) mit etwa 15 Doppelsitzungen . Dabei können TherapeutInnen auf zahlreiche Hilfsmittel zurückgreifen. Wenn junge PatientInnen Probleme haben, ihre Gedanken in Worte zu fassen, bieten sich beispielsweise nonverbale Kommunikationsmittel wie Spiele mit Figuren oder Stofftieren an. Des Weiteren gibt es die Möglichkeit, anfängliche Verständigungsschwierigkeiten durch Zeichnen, Malen oder Basteln im Rahmen einer Kunsttherapie zu überwinden. Die Therapeutin Susanna Stein hat für die Arbeit mit Flüchtlingskindern ein spezielles Trauma-Bilderbuch entwickelt, das in verschiedensten Sprachen erhältlich ist . Selbstverständlich helfen auch DolmetscherInnen dabei zwischen Therapeuten, Kindern und Angehörigen zu vermitteln. Insgesamt lässt sich festhalten: Die Behandlung von Traumata bei Flüchtlingskindern ist zwar schwierig, aber alles andere als unmöglich.

Traumatherapie mit Blick auf das große Ganze

Zum Schluss bleibt noch die Frage: Wie sieht es mit den Erfolgschancen aus? Ob eine Traumatherapie bei Flüchtlingskindern langfristig Wirkung zeigt, hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab. Ambulante Gespräche mit TherapeutInnen bilden nur einen Teil des Fundaments, das Kinder und Jugendliche als Starthilfe brauchen. Grundsätzlich kann eine therapeutische Behandlung von Traumata nur funktionieren, wenn sie innerhalb eines umfangreichen Netzwerks aus unterschiedlichen Hilfsmaßnahmen stattfindet. Dazu gehören:

  • Beratungsgespräche mit Sozialarbeitern
  • Sprachkurse
  • Feste Struktur durch Kindergarten oder Schule
  • Finanzielle Absicherung
  • Komfortable Wohnverhältnisse

Nicht zuletzt spielen natürlich die persönlichen Beziehungen eine zentrale Rolle für den Erfolg einer Traumatherapie bei Flüchtlingskindern. Damit sich die Betroffenen in Deutschland ein neues Leben aufbauen können, brauchen sie in erster Linie Rückhalt von engen Bezugspersonen und Anschluss an die sie umgebende Kultur und Gesellschaft. Dementsprechend sollten vor allem PädagogInnen in Kindergärten und Schulen den Kontakt zwischen eingewanderten und einheimischen Kindern intensiv fördern.

Um ein traumatisches Ereignis wie eine Flucht in ein völlig fremdes Land zu überwinden, gibt es nicht nur einen Weg. Geflüchtete Familien sollten daher so viele Hilfsangebote wie möglich wahrnehmen – von rechtlicher Beratung über kostenlose Freizeitveranstaltungen bis hin zur professionellen Traumatherapie für Flüchtlingskinder. Wenn dabei alle Beteiligten an einem Strang ziehen, ist auch mit einer furchtbaren Vergangenheit eine sichere und vielleicht auch glückliche Zukunft möglich.

* Quelle: https://www.europarl.europa.eu
** Quelle: https://www.bamf.de
*** Quelle: https://www.unhcr.org/
**** Quelle: https://b-umf.de
***** Quelle: http://www.baff-zentren.org

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